Shared Leadership in Action

Zwei Baume als Köpfe in Interaktion

Shared Leadership - Kleine Einordnung und große Event-Nachlese

Ende November war ich in Basel zu einer von NextGen Enterprise organisierten Veranstaltung zum Thema Shared Leadership, die bei Roche als Gastgeber stattfand. Meine Fragen „Warum Roche“ und „warum wurde ich eingeladen“ klärten sich in Basel: Roche, weil sich dort das Führungsverständnis im Rahmen recht großer Initiativen in Richtung Shared Leadership wandelt bzw. wandeln soll. Und ich wurde eingeladen, weil wir bei den Organisationsgärtnern eine Lizenz der Software Holaspirit nutzen, mit der – vor allem auf Holacracy/Holakratie basierende - Zusammenarbeit und Führung unterstützt wird (quasi eine europäische Version von Glassfrog). Da wir selbst stärker auf Basis der Konzepte der kollegialen Führung (Oestereich/Schöder) arbeiten, die wir insgesamt als deutlich framework-freier und weniger starr empfinden als beispielsweise die Holakratie oder Umsetzungen des sogenannten Spotify-Modells - das es gar nicht gibt-, passen wir uns die Software an und hoffen auf Erweiterungen, in denen auch andere Kreisorganisationen abbildbar sein werden.

Rhein in Basel mit Regenbogen und Roche Gebäude

Weil die Veranstaltung von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen sehr facettenreich, bereichernd und beeindruckend empfunden wurde, habe ich beschlossen, hier einen etwas umfangreicheren Einblick in meine Eindrücke zu einigen der Impulse und Workshops zu geben. Die Auswahl ist keine Bewertung (es passierte schlicht auch eine ganze Menge parallel) und ich zeige mich enthaltsam, was kritische Bewertung angeht.

 

Vorab gibt es auch ein wenig Hintergrund-Info zu Shared Leadership. Die kann der kundige Leser oder die kundige Leserin natürlich auch sofort überspringen:

  • Kurzer Hintergrund Shared Leadership
  • Jos de Blok, Keep it simple, keep it small (Buurtzorg)
  • Hemerson Paes, Unlocking the potential of Shared Leadership (ROCHE)
  • Oliver Brunschwiler, Create a purpose-led organization (FREITAG)
  • Brian Robertson, 5 Steps to self-management (Holacracy One)
  • Sabrina Schnell, Change without Losing Yourself (Fachhochschule Bern, NEOMATIC AG)
  • Nicolas Longin, Ein mittelgroßes Unternehmen erfindet sich auf Basis der holokratischen Prinzipien neu (Welser Profile)

Shared Leadership – Was könnte das sein?

Gerade bei eigenen „Steckenpferd-Themen“ macht man – okay, das ist zuerst wohl nur eine Aussage über mich - den Fehler, davon auszugehen, dass manche Begriffe für alle Beteiligten schon selbstverständlich sind, obwohl sie es mitnichten sind.

 

Ein Kerngedanke von Shared Leadership oder verteilter Führung ist es, Führung nicht mehr als exklusive Tätigkeit weniger privilegierter Personen (oder gar als Ausdruck von Status und gelungener Karriere) zu betrachten. Stattdessen wird Führung als eine Arbeit gesehen, deren unterschiedliche Facetten von vielen Personen einer Organisation oder Organisationseinheit auf eine strukturierte Art und Weise bearbeitet werden. Die Struktur ergibt sich vor allem dadurch, dass unterschiedliche Führungsaufgaben und Erwartungen an Führung in unterschiedlichen Führungsrollen zusammengefasst werden, die – ausgestattet unter anderem mit Befugnissen, Ressourcen und notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten – miteinander und mit den Teammitgliedern kommunizieren, koordinieren und entscheiden. Shared Ladership ist also nicht mehr nur zentral, sondern dezentral organisiert und kann vor allem über anpassbare Rollenbeschreibungen und Gestaltung der Rahmenbedingungen (u.a. Prinzipien, Regeln) mit veränderlichen Anforderungen im Inneren und aus der Umwelt dynamisch umgehen. Differenzierte Führungsrollen können beispielsweise unterschiedliche Rollen für

  • disziplinarische Führung (vor allem klassisch arbeitsrechtlich relevante Führungsaufgaben)
  • persönliche Führung (Entwicklung und Weiterentwicklung von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen) und
  • fachliche Führung sein.

Ganz banal löst eine solche verteilte Führung auch das Problem, dass sehr viele Führungskräfte eben nicht alle diese Dimensionen gleich bedienen können oder wollen. Agile Arbeitsweisen bedingen für ihr Gelingen ein solches verändertes Führungsverständnis in Richtung Shared Leadership, das durch typische Rollen wie Scrum Master, Product Owner, Business Owner, Host oder Lernbegleiter zum Ausdruck kommt.

 

Damit ist Shared Leadership alles andere als das berüchtigte Laissez-Faire. Gerade zur Unterstützung von Ansätzen wie sich selbst organisierenden Teams wird durch eine bewusst verteilte Führung die oft befürchtete Beliebigkeit und das Chaos vermieden. Die Freiheit eines selbstorgansierten Tuns erhält den hinreichenden Rahmen, der gemeinschaftliche Wertschöpfung und Zusammenarbeit im Sinne des Wofürs der Organisation bzw. des Unternehmens ermöglicht. Oder mit einem leicht abgewandelten Zitat (frei nach Oestereich/Schröder): Es geht um den Übergang von der (heroischen) Führungskraft zu gemeinsamer Führungsarbeit, denn Führung ist zu wichtig, um sie nur privilegierten Führungskräften zu überlassen.

 

Und so begrüßten zwei Roche-Manager (Nicole Tschanz, Jan Leibundgut) zu Beginn des anderthalbtägigen Events das Publikum auch mit diesen Erfahrungen aus ihrem Shared-Leadership-Prozess mit ihren Units:

  • Ich setze meine Energie ganz anders ein
  • Ich sehe das Thema „Management“ viel entspannter
  • Die Fragen nach dem Sinn und dem eigenen Beitrag, dem Sinn näher zu kommen, steht mehr im Vordergrund und die Hierarchie des Why ersetzt die lineare Hierarchie.

 

Shared Leadership bei Buurtzorg: Keep it small, keep it simple

Jos de Blok auf der Bühne mit Porträt im Hintergrund

Die erste Keynote bescherte mir mit Jos de Blok, dem Gründer und CEO des holländischen Haus-Pflegedienstleisters Buurtzorg, direkt einen der wesentlichen Protagonisten, deren Geschichte zu meinen Überzeugungen für ein neues Führungsverständnis beigetragen hat. Gegründet hat Jos de Blok Buurtzorg 2006 mit einem einzigen Team von Krankenschwestern inmitten eines auf extreme Standardisierung und Effizienz getrimmten holländischen Pflegesystems, das von hoch fragmentierten Pflegeleistungen mit extrem unzufriedenen Pflegekräften gekennzeichnet war.

 

Getragen unter anderem von den Gedanken, dass man für das Verantwortung übernehmen kann, was man überblicken kann und, dass es darum geht, eine Umgebung zu schaffen, in denen Menschen das tun können, was sie tun wollen, hat Buurtzorg das holländische Pflegeystem geradezu revolutionär transformiert (könnten wir in Deutschland von lernen). Das Unternehmen wächst auf seine ganz bestimmte Art und Weise kontinuierlich und erwirtschafte heute mit fast 15.000 Krankenschwestern einen Umsatz von fast 500 Mio. €. Kernelemente sind – entsprechend des verantwortungsfördernden „keep it small, keep it simple“ - nahezu 1.000 vollständig eigenverantwortliche Teams mit bis zu 12 Krankenschwestern. Ein Team ist jeweils für die gesamte Organisation und vollständige Erbringung der Pflegeleistungen in einer geografischen Nachbarschaft („Ökosystem der Zukunft“) als Generalisten verantwortlich. Die Zentralorganisation beschränkt sich auf     lediglich 50 Backoffice-Kräfte, die sich im Wesentlichen um pflegeferne Dinge wie Rechnungen, Bezahlung und Buchhaltung kümmern, und gut 20 Coaches für die Teams. Vielleicht etwas ironisch formulierte Jos dann auch: „I don´t belive in leadership, I believe in craftmenship”. Führung ist in den selbstorgansierten Pflegeteams insofern extrem verteilt und basiert auf Autonomie und Vertrauen. Entscheidungen zu bspw. notwendiger IT oder Weiterbildung trifft das Team autonom und die unternehmensweite Kommunikation und Koordination geschieht über ein eigenes Buurtzorgweb. Hier werden auch Vorgehensweisen im Wege von Vorschlags- und Resonanzprozessen vereinbart. Richtlinien und Strategien im herkömmlichen Sinne gibt es dagegen nicht.

Informationen zu Selbstorganisation bei Buurtzorg

Das Ergebnis dieses Beispiels von Shared Leadership – in einer Version des Primats von craftmenship – ist neben stetigem Umsatzwachstum die wiederholte Wahl zum Arbeitgeber des Jahres, eine extrem hohe Mitarbeiter- und Patientenzufriedenheit, Overhead-Kosten von lediglich 8% und eine deutlich gesunkene Anzahl notwendiger Pflegestunden. Hört sich nach einem mindestens dreifachen Win Win Win an. Es wird durch ein außerordentlich hohes Maß an Autonomie sowie der Organisation von Arbeit in einer Weise ermöglicht, so dass die Menschen ihre Kompetenzen bestmöglich für die gemeinsame Arbeit einbringen können. Mit solcherart transformierten Strukturen hält Jos de Blok übrigens auch den Fachkräftemangel für lösbar und: „Wenn wir das Gesundheitswesen besser machen wollen, haben wir andere Dinge zu ändern als das Gesundheitswesen“.

 

Apropos keep it simple: Holakratie und Soziokratie funktionieren aus Sicht von Jos de Blok. Er findet sie für die eigene Anwendung lediglich ein wenig zu kompliziert ;-)

Entfaltung kollaborativer Führungsarbeit – Informale Führungskräfte mit mehr sozialem Kapital als formale Führungskräfte

Abbildung social capital für shared leadership

In seinem Beitrag zeigte Hemerson Paes (Global Network Catalyst bei Roche), dass Führung keine Frage formaler Hierarchie ist, sondern der Einflussnahme auf das Leben von Kollegen, Kunden und anderen Stakeholdern durch das eigene Handeln - ganz unabhängig von einem formalen Mandat. Das in diesem Sinne soziale Kapital einer Person ist also in hohem Maße unabhängig von der formalen Position und eine Facette von Shared Leadership.

Ausgangspunkt ist der bekannte Gedanke, dass lineare Orgcharts mit Abteilungen und Funktionen nicht die tatsächliche Kollaboration und Einflussintensität in einem Unternehmen widerspiegeln, sondern höchstens die Logiken von formal zugeordnetem Head-Count und vermutlicher Autorität zur Entscheidung über finanzielle Ressourcen. Vertrauen und Einfluss auf die Zusammenarbeit werden dagegen eher in einer netzwerkartigen Abbildung der Kommunikationsintensitäten zwischen Personen sichtbar.

Über die Untersuchung einer Organisationseinheit (19.000 Personen) hat Roche versucht herauszufinden, welche Player über das soziale Kapital im Sinne der Dimensionen von Vertrauen und Einfluss in Kollaboration verfügen. Dabei stellte sich heraus, dass weniger als ein Fünftel der formalen Manager über ein hohes soziales Kapital verfügten und über 60% derjenigen, die über ein hohes soziales Kapital verfügen, informelle Führungskräfte ohne formal zugewiesene Autorität waren. Es gab also faktisch verteilte Führung mit hohen Autonomiegraden und gleichzeitig ein hohes Maß an nicht genutztem Potenzial für erfolgreiche Kollaboration.

Bei der Untersuchung der informalen Leader mit dem höchsten sozialen Kapital ergaben sich drei wesentliche Faktoren für erfolgreiche Kollaboration und Freisetzen der Potenziale von Shared Leadership. Auch wenn die Faktoren als solche wahrscheinlich nicht überraschen, beweisen sie für mich einmal mehr, dass es nicht um formale Strukturen oder gar die berüchtigten Mindset-Änderungen von Mitarbeitern geht, sondern um die Gestaltung hilfreicher Rahmenbedingungen:

  • gemeinsame Ziele
  • Transparenz der Ziele
  • Bewusstsein für die Fähigkeiten

Die praktische Umsetzung geschieht bspw. dadurch, dass im Prinzip jeder jedem Team beitreten kann: Das Commitment wandert von einer organisationalen Zugehörigkeit zu einer konkreten Problemlösung und den Peers, die daran arbeiten. Das geht nur mit einem extremen Maß an (organisierter) Autonomie und Transparenz. Während ich mich noch frage, wie das in der Praxis aussehen kann, erzählt Paes, dass sich ganz praktisch bei Roche ergeben hat, dass fast 3.000 Mitarbeiter zu mehr als 600 selbstorgansierten Teams gewandert sind. Es funktioniert offenbar ;-) Und auf die Frage, wie das funktioniert: Wir vertrauen den Menschen und wir sind alle sehr committed auf den Purpose, für den wir wirken. Und viele Fragen sind auch offen in diesem Lernprozess, z.B. die Frage nach den Perspektiven für Konstrukte wie „Karriere“.

Erschaffung einer Purpose-geführten Organisation

Oliver Brunschwiler vor Bild für shared leadership im Karrussel merrygoround mit zwei Lenkrädern

Einen spannenden Einblick in die Verknüpfung von starker, auf Nachhaltigkeit fokussierter Purpose-Orientierung und Shared Leadership gewährte Oliver Brunschwiler. Früher hätte man ihn CEO des kultigen Taschenlabels aus der Schweiz, das unter anderem Messenger Bags, Shopper etc. aus rezyklierten LKW-Planen herstellt, betitelt. Aufgetreten ist er in Basel in seiner Rolle als Apostel, deren Zweck die inspirierende Präsentation der Marke FREITAG im Sinne ihres Purpose (Intelligent Design for a Circular Future) ist. Das ist ihm gelungen. Und jenseits des Themas Shared Leadership war es beeindruckend, wie dieser Purpose in der Darstellung des Business Models, das auch die Zusammenarbeit mit den Quell-Industrien der Produktionsmaterialien beinhaltet, spürbar wurde. Mit der Vision, dass aus Recycled Individual Products (R.I.P. 😉) Circular Individual Products werden können.

 

FREITAG nutzt heute als “Betriebssystem” Holacracy, das über Holaspirit organisiert wird. In der Vorstellung der Arbeitsweise erläuterte Oliver Brunschwiler neben der von ihm ausgefüllten Apostel-Rolle weitere Rollen wie die Company Leader, Strategist oder Mitglied des Verwaltungsrats.

Bemerkenswert empfand ich dabei unter anderem, dass

Bühne mit Text zu Holacracy bei FREITAG
  • es möglich ist, dass eine Inhaberin der für das Unternehmen übergreifend bedeutsamen Rolle Company Lead im zentralen Kreis der Company Leads diese Rolle in Teilzeit ausfüllen kann (schon irre, dass man das heute noch als bemerkenswert empfinden kann bzw. muss)
  • mit dem Kreis der Company Leads ein Werkzeug geschaffen wurde, das vermeidet, dass einzelne Personen wie Oliver Brunschwiler noch als primus inter pares empfunden werden und echte Shared Leadership damit erschwert würde
  • das Board (Verwaltungsrat), als Verbindung zwischen der inneren FREITAG-Welt und der Umwelt auch innerhalb von Holaspirit als Teil des Gesamtsystems abgebildet ist
  • die Accountabilities dieses Boards über die Verbindung zu zahlreichen internen Rollen eine rollenbasierte Führungslogik verdeutlichen, in der Kompetenz die Basis für Führungsmacht ist und nicht die Position in der Hierarchie.

Self-Management in 5 Schritten - Holacracy

Brian Robertson auf Bühne vor Slide zu tactical meeting

Über Holacracy als ein Framework für Selbstorganisation, Self-Governance oder Shared Leadership verliere ich hier jetzt nicht viele Worte. Das bleibt einem separaten Artikel vorbehalten, der hier verlinkt sein wird, sobald er existiert... .

Brian Robertson räumte jedenfalls direkt zu Beginn auch noch einmal mit dem Missverständnis auf, Selbst-Management oder Selbstorganisation würde Management von Arbeit als solches überflüssig machen. Funktionen wie Rollen und Verantwortungen zu definieren, Aufgaben zuzuordnen, Anstrengungen an einer gemeinsamen Vision auszurichten und dafür Ressourcen zu allokieren und vor allem Hindernisse zu beseitigen sind nach wie vor relevant. Was eben zunehmend nicht mehr notwendig oder gar schädlich erscheint, ist der klassische “Boss” des 20. Jhdts. Er illustriert das auch an einem Beispiel für die alltägliche Komplexität: Die Menge an Nachrichten und Informationen, die eine Führungsperson an einem Tag heute erhält und wie viele sie zu der Zeit erhalten hat, als die Prinzipien klassischen Managements zu Beginn des 20. Jahrhunderts definiert wurden. Das ist für eine einzelne Person nicht mehr überschaubar. Der nächste Schritt in der Management-Evolution ist die Gestaltung einer klaren und transparenten Koordinationsstruktur, die sich in lernenden, selbstorganisierten Teams fortlaufend dynamisch an Veränderungen anpassen kann. In einer solchen Koordinationsstruktur wie das Holacracy-Framework es zur Verfügung stellt, findet Management quasi ohne den (klassischen) Manager in einer Form statt, bei der regelbasierte Prozesse einen größeren Anteil haben als eine Prinzipien-basierte Vorgehensweise (ein Aspekt, über den sich sicherlich unterschiedliche Sichtweisen austauschen ließen).

Ich habe mich auch deswegen immer mit Holacracy schwergetan – und ich war bei weitem nicht der Einzige –, weil es mit dem Anspruch daherkam, dass es nur komplett entsprechend der Verfassung des Frameworks umgesetzt werden kann, wenn es wirken soll. Angesichts der Komplexität sozialer Systeme und ihrer Umwelten empfinde ich einen solchen all or nothing oder auch one fits all-Anspruch (bei aller Anpassbarkeit und orientierender Unterstützung, die ein solches Framework bieten kann) unangemessen. Die neue Version von Holacracy ist jetzt mit fünf Building Blocks quasi modulartig anwendbar. Diese Building Blocks sind:

  1. Herausarbeiten von Rollen und Verantwortungen (Effekt: Jeder weiß auf den ersten Blick, wen man wofür ansprechen muss)
  2. Klären der Regeln für Kooperation (Maß an Transparenz, Priorisierungen, welche Erwartungen aneinander)
  3. Bessere Meetings, die den Zeitbedarf bis zum Treffen einer Entscheidung - empirisch belegt - bis zu 90% reduzieren sollen. Hier sind die Regeln für die rollenbasierte Prozessierung von Spannungen in taktischen Meetings formuliert.
  4. Ermächtigung der Rollen zum Handeln in dem Sinne, dass sie die volle Handlungsautonomie zur Erfüllung ihrer Verantwortung innehaben, solange dabei nicht gegen eine vereinbarte Regel verstoßen wird. Der bekannte Gedanke dahinter ist, dass erst die Regeln und Grenzen die Freiheit und Macht einer Rolle spürbar machen.
  5. Verfestigung (bake in) von Evolution und Veränderungsfähigkeit der Governance

 

Veränderung zur Selbstorganisation, ohne sich dabei selbst zu verlieren

Slide mit drei Faktoren zur Beschreibung von Selbstorganisation

Sabrina Schell, Professorin am Institut für New Work der Fachhochschule Bern, lenkte in einem energetisierenden Vortrag den Blick auf die Situation der Menschen in einem Veränderungsprozess hin zu Shared Leadership. In einem solchen Prozess werden sie aus dem Erleben einer stabilen Einheit von Person und Stelle heraus in Rollen “aufgespalten". Diese Rollen sollen sich dann fortlaufend anpassen. Für das vorläufigen Ende der Veränderung wäre es schön, wenn sie sich in einem dynamischen, lebendigen, Organismus-ähnlichen System wiederfinden. Dabei werden sie überrollt von Frameworks und Werkzeugen, die sie lernen “sollen”. Wie gehen wir mit den Auswirkungen dieser Veränderungsprozesse auf die Menschen um, ohne dass Überforderung, Stress oder Resignation um sich greifen. Für einen gelingenden Veränderungsprozess betont sie die Bedeutung von stabilisierenden Routinen, die Quelle von Veränderung sein können, sowie die Etablierung von Leitplanken und Brücken für den Übergang von der statischen “alten“ Welt hinüber in eine neue, organische Welt voller Möglichkeiten der Selbstorganisation. Dazu gehört auch das Feiern von Zwischenschritten bei dem Weg über die Brücke.

Zur Strukturierung von und Orientierung in den unterschiedlichen Selbstorganisationsgeschehen in Organisationen bietet sie (in Anlehnung an Lee/Edmondson) ein Raster anhand der drei Dimensionen

  • Radikalität der Dezentralisierung
  • Durchdringungsgrad in der Organisation und
  • Formalisierung des Systems

an. Empowerment ist hierbei beispielsweise meist relativ wenig radikal, als Element der Führungskultur durchdringt es die Organisation recht weit und ist mäßig formalisiert. Ein Framework wie Holacracy ist dagegen hoch formalisiert und gegenüber klassischen Führungsstrukturen sehr radikal. Das Raster könnte ein hilfreiches Dialog-Werkzeug zur Reflexion von Erleben und gewünschten Soll-Zuständen sein.

Als zentrale Elemente von geteilter Führung bzw. Shared Leadership benennt sie

  • Teilhabe an Ideenfindung
  • Teilhabe an Entscheidungen und
  • Übergabe und Übernahme von Verantwortung.

Gerade auch der letzte Punkt erinnert mich an die schon öfter erlebte Verwechslung von wirksamer Selbstorganisation und überfordernder Selbstüberlassung im gut gemeinten Bestreben nach mehr gemeinsamer Führungsarbeit. Diese Selbstüberlassung ergibt sich auch dann, wenn hoffnungslos überlastete (klassische) Führungskräfte zur eigenen Entlastung verstehbar Selbstorganisation appellartig ausrufen oder einfordern. Leider ist das erwartbare Ergebnis dann oft – weil eben keine Brücken und Leitplanken existieren – schmerzhafte Abwesenheit jeglicher Führung. Das sind die Situationen, in denen wahlweise dem Prinzip Selbstorganisation chaotische Beliebigkeit oder dem Menschen das falsche Mindset vorgeworfen wird. Ein wesentliches Werkzeug ist hier aus meiner Sicht übrigens die Kontextbrücke der kollegialen Führung, die exakt den Übergang vom Prinzip Führungskraft zu gemeinsamer Führungsarbeit "moderiert". 

 

Nicht umsonst nennt Sabrina Schell als Antwort auf eine abschließende Frage nach günstigen Rahmenbedingungen in erster Linie Vertrauen in meine Fähigkeiten und die der anderen. Und da ist sie wieder: Die psychologische Sicherheit als Basis für jedwedes Gelingen in Veränderung und Kollaboration – und erst recht in Shared Leadership.

Welser Profile erfindet sich mit verteilter Führung neu

Nicolas Longin auf Bühne vor 7 Generationen Landkarte

Welser Profile ist ein seit über 300 Jahren in 11. Generation von der Familie geführter Hidden Champion und Global Player für Stahlprofile. Über 2.300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erwirtschaften an 5 Standorten mit 1 Mrd. € Umsatz. Der CFO Nicolas Longin berichtete auf eine sehr persönliche Art von der Reise des Unternehmens von einem patriarchalisch und formal-hierarchisch geführten Unternehmen zu Shared Leadership.

Ausgangspunkt war das Erleben von Nicolas Longin zu Beginn seiner Tätigkeit bei Welser. In seinen Gesprächen, die er zum Start führte, sprachen die Menschen viel von einer tollen Vergangenheit, fast genauso viel von der schlechten Gegenwart und fast gar nicht von guten Ideen für die Zukunft.

Daraufhin wurde eine umfassender Dialog-Prozess im Unternehmen gestartet (mit der 7-Generationen-Landkarte als einem wesentlichen Element), aus dem unter anderem die Formulierung eines sogenannten Backbones resultierte. Dieser Backbone formuliert Pioniertum, Generationenverantwortung, gemeinsame Entwicklung und menschliche Begegnung als Grundlage für das Verhalten und wird im Purpose als Leitstern konzentriert. Gepaart mit Überlegungen zum zugrundeliegenden Menschenbild (Stichwort sogenannte Theory X/Y) entstanden 5 Bauprinzipien für eine Kultur, die neben den Backbone-Elementen eine aus Könnerschaft abgeleitete Autorität, evolutionäres Lernen, Autonomie, Klarheit und Transparenz betont.

Aus der Frage, welche Strukturen und Prozesse gewünschtes Verhalten und gewünschte Haltungen unterstützt, entstand ein auf holakratischen Prinzipien beruhendes, zellbasiertes Welser- Organisationsystem (OS), das die Welser Bauprinzipien optimal unterstützen kann und Shared Leadership realisiert. Es wurde als Pilot aufgesetzt und wird kontinuierlich angepasst. In diesem Modell hat Nicolas Longin zwei Rollen, wobei er in einer Rolle lediglich einfaches Kreis-Mitglied ist. Welser ist aktuell eine hybride Organisation, in der ein holakratisches Organisations-System parallel zu einem (noch)hierarchischen System besteht. Beide Teile orientieren sich allerdings stringent am Backbone als Verhaltensvorgabe. Dementsprechend benannte Longin auch eine wesentliche Voraussetzung für gelingende Veränderung mit Blick auf Führung: “Walk the Talk”.

 

Was mich besonders beeindruckte: Nicolas Longin formulierte als ein Fazit aus dem bisherigen Prozess - neben den erfolgreichen Veränderungen auf der organisationalen Ebene – eine sehr persönliche Entwicklung: “Ich wurde wieder mehr Mensch”. Für mich eine sehr schöne Interpretation von New Work, bei der Wertschöpfung besser und gleichzeitig humaner wird.

Abschluss

Plenumsdialog auf Bühne bei Shared Leadership in Action

Auch wenn die kleine New Work-Reminiszenz schon ein guter Abschluss für diese Shared Leadership Impulse sein könnte, ergänze ich das Ganze noch um wenige Zitate aus dem Panel u.a. mit Brian Robertson, James Priest, Ted Rau, Tanya Stergiou und Hemerson Peas:

  • Es geht bei Shared Leadership gleichzeitig nicht um Menschen (sondern Rollen und Verantwortungen) und andererseits voll und ganz um die Menschen (nämlich Bedürfnisse und Perspektiven). Purpose integriert beides: Role & Soul.
  • Wenn Selbstorganisation nur eingeführt wird, um die Menschen noch etwas mehr wie eine Orange auszupressen, ..., wird es nicht funktionieren.
  • Wenn Du etwas ändern möchtest, weil es (nur) Dein Bedürfnis befriedigen soll, wird dieses Wollen zur Hürde. Niemand möchte sich ändern, weil jemand anderes möchte, dass er sich ändert. Wenn Dir etwas wirklich widerstrebt, suche einen Weg, es lieben zu können... Dann kommst Du in die beste Position, dabei helfen zu können, dass es sich ändern kann (Brian Robertson).

Danke für eine inspirierende Veranstaltung mit vielen Perspektiven auf Shared Leadership. 

Performance MovinArt auf Bühne

PS: Zu den Sessions von Timm Urschinger & Chrysavgi Sklaventiti sowie Jacob Watkins gehe ich über den Jahreswechsel noch einmal in innere Klausur. Melde mich...

 

PPS: Und wer einmal über Shared Leadership, hilfreiche Werkzeuge wie die Kontextbrücke, Delegation Poker oder widerstandsbasierte Entscheidungsverfahren in den Dialog mit uns gehen möchte: einfach anrufen, mailen oder Kontaktformular nutzen. 

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